Mythen: Migräne und Lebensmittel

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Prof. Dr. med. Dr. phil. Stefan Evers

Prof. Dr. med. Dr. phil. Stefan Evers arbeitet als Chefarzt der Klinik für Neurologie am Krankenhaus Lindenbrunn in Coppenbrügge. Er war bis 2012 Leitender Oberarzt am Universitätsklinikum Münster und hat sich dort wissenschaftlich u. a. mit neurologischen Schmerzerkrankungen beschäftigt. Er ist seit 2011 Generalsekretär der International Headache Society. 2018 wurde er zum Fellow der European Academy of Neurology berufen.

Viele Migräne-Betroffene haben bestimmte Lebensmittel als Auslöser ihrer Migräne im Verdacht. Aber was kann man als behandelnde Ärztin oder Arzt evidenzbasiert empfehlen? Hier erfahren Sie, welche Zusammenhänge eher Mythos als Tatsache sind und warum die postprandiale Glukosereaktion eine wichtige Rolle spielt.

Inhalt:

Schokolade – der am häufigsten genannte Auslöser unter den Lebensmitteln

Haben Sie Ihren Patientinnen und Patienten schon mal vom Verzehr von Schokolade abgeraten? Mehrere Studien haben diesen Zusammenhang untersucht. In einem Review wurden die Ergebnisse von 25 Studien zusammengefasst, darunter 3 placebokontrollierte Studien. Während in den nicht-placebokontrollierten Studien bei wenigen Prozent (1,3 – 33%) der Teilnehmenden ein Zusammenhang beobachtet werden konnte, wurde in den placebokontrollierten Studien kein Zusammenhang nachgewiesen1. Diese Ergebnisse bedeuten jedoch nicht, dass Migräneattacken nicht trotzdem um den Schokoladenkonsum herum häufen können. Die Daten passen zur Hypothese, dass nicht die Schokolade selbst der Auslöser ist, sondern vielmehr ein erstes Symptom der Prodromalphase einer Migräne1,2. Denn bereits in dieser Phase besteht im Migränehirn ein erhöhter Energiebedarf und Betroffene berichten oft von regelrechten Heißhungerattacken. Im Energieloch greifen sie natürlich eher zu hochkalorischen Lebensmitteln wie der Schokolade2. Regelmäßige Mahlzeiten und eine blutzuckerstabilisierende Ernährung können das Auftreten kurzfristiger Energiedefizite verhindern und damit Anfallshäufigkeit reduzieren3.

Kaffee – Fluch und Segen zugleich

Im Alltag kann ein moderater und möglichst konstanter Koffeinkonsum empfohlen werden, für eine Empfehlung zum dauerhaften Verzicht von Migräne-Betroffenen gibt es derzeit keine ausreichende Evidenz4.  Wichtiger ist, dass das Migränehirn Regelmäßigkeiten braucht. Denn wer viel Kaffee trinkt und plötzlich darauf verzichtet, riskiert einen sogenannten „Koffein-Rebound“, also eine gewisse Entzugserscheinung4, die zu einer Vasodilatation und damit zu migräne-ähnlichen Kopfschmerzen und Symptome führen kann, die der Prodoromalphase ähneln5.

Es konnte aber auch nachgewiesen werden, dass Koffein in Kombination mit den Schmerzmitteln Paracetamol und Acetylsalicylsäure sogar die Wirksamkeit dieser Präparate verstärkt6. Auch die Kombination von Koffein und Ibuprofen zeigt ähnliche Efffekt7. Koffein kann also in der akuten Behandlung schnell Abhilfe leisten, gleichzeitig aber bei Unregelmäßigkeiten die Häufigkeit von migräne-ähnlichen Kopfschmerzen begünstigen.

Rotwein und Migräne – mehr als nur der Alkohol?

Kopfschmerzen nach einem feuchtfröhlichen Abend – das ist nichts ungewöhnliches, aber kann Alkohol auch Migräne auslösen? In einer niederländischen Studie gaben 35,6% der insgesamt 2200 befragten Migräne-Betroffenen an, dass Alkohol bei ihnen Migräneattacken auslöst. Rotwein wurde dabei im Vergleich zu anderen alkoholischen Getränken besonders häufig als Trigger genannt8. Eine weitere Studie verglich den Einfluss von Wodka und Rotwein auf das Auftreten von Migräneattacken. Auch hier triggerte Rotwein häufiger Migräneattacken als Wodka. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass neben dem Alkohol noch andere bioaktive Stoffe beteiligt sein könnten9. Rotwein enthält u.a. Histamin, Tyramin und Phenylalanin. Diese biogenen Amine stehen im Verdacht  bei der Entstehung von Migräne beizutragen8,9. Auch wird der Einfluss der Fasslagerung diskutiert. Zusammenfassend kann man festhalten, dass bisher nur ein Zusammenhang zwischen Rotwein und Migräneattacken nachgewiesen werden konnte, nicht aber für andere alkoholische Getränke8,10.

Fisch und Algen gegen Migräne?

Das konsumierte Fettsäureprofil, insbesondere das Verhältnis zwischen Omega-3- und Omega-6-Fettsäuren, spielt eine zentrale Rolle bei inflammatorischen Prozessen. Statt der anti-inflammatorischen Omega-3-Fettsäuren werden in den westlichen Ländern hohe Mengen an pro-inflammatorischen Omega-6-Fettsäuren konsumiert. Im Migränehirn können sie die Entstehung von Kopfschmerzen begünstigen, in dem sie zentrale Ausgangsstoffe für Prostaglandine sind12-15.

Eine große Studie aus den USA konnte zeigen, dass Migräne-Betroffene weniger häufig und weniger stark unter Kopfschmerzen litten, wenn sie mehr Omega-3-Fettsäuren zu sich nahmen. Der Effekt war noch stärker, wenn gleichzeitig die Omega-6-Fettsäuren reduziert wurden14. Diese Effekte konnten auch bei vielen anderen entzündlichen Erkrankungen nachgewiesen werden. Derzeit wird von der Deutsche Gesellschaft für Ernährung ein Verhältnis von Omega-3 zu Omega-6 von 1:5 empfohlen.

Gibt es eine Migränediät?

Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es derzeit keine Migränediät, die empfohlen werden sollte. Es gibt zwar häufig Korrelationen zwischen Nahrungsmitteln und Migräne, aber kaum nachgewiesene kausale Zusammenhänge. Denn einzelne Lebensmittel sind in der Regel nicht die Auslöser von Migräne.

In den letzten Jahren ist der Metabolismus stärker in den Fokus gerückt. Wichtig ist die Erkenntnis, dass die metabolische Reaktion auf Lebensmittel großen interindividuellen Unterschieden unterliegt, die u.a. von der Genetik und dem Mikrobiom abhängen. Das Forschungsfeld der personalisierten Ernährung bietet hier neue Ansätze, um individuelle Ernährungsempfehlungen aussprechen zu können11. Eine zentrale Rolle spielen dabei ungünstige postprandiale Reaktionen auf Nahrungsmittel, die u.a. zu kurzfristigen Energiedefiziten im Gehirn führen können. Ein niedriger und stabiler Blutzuckerspiegel kann die Dauer und Häufigkeit von Migräneattacken reduzieren3. sinCephalea bietet diesen innovativen Ansatz nun erstmals für Ihre Patientinnen und Patienten an.

Fazit

Die Liste der möglichen Auslöser ist lang. Nahrungsmittel spielen dabei für Betroffene eine wichtige Rolle. Nach neuesten Erkenntnissen werden Auslöser und Symptome der Prodromalphase häufig verwechselt. So kann der wiederholte Griff zum hochkalorischen Lieblingssnack wie Schokolade die Antwort auf eine Heißhungerattacke sein, die auf ein mögliches kurzfristiges Energiedefizit im Gehirn zurückzuführen ist. Weg von den Nahrungsmitteln, hin zu den metabolischen Reaktionen auf sie, das ist der Weg, der mit der personalisierten Ernährung beschritten wird. Die digitale Gesundheitsanwendung sinCephalea bringt diesen Ansatz bereits heute in die Patientenversorgung. Eine personalisierte, niedrig-glykämische Ernährung kann die postprandiale Blutzuckerreaktion stabilisieren und so Migräneattacken reduzieren3.


Referenzen

1.         Nowaczewska, M., Wiciński, M., Kaźmierczak, W. & Kaźmierczak, H. To Eat or Not to Eat: A Review of the Relationship between Chocolate and Migraines. Nutrients 12, 608 (2020).

2.         Bernecker, C. et al. Oxidative stress is associated with migraine and migraine-related metabolic risk in females. Eur J Neurol 18, 1233–1239 (2011).

3.         Lelleck, V. V. et al. A Digital Therapeutic Allowing a Personalized Low-Glycemic Nutrition for the Prophylaxis of Migraine: Real World Data from Two Prospective Studies. Nutrients 14, 2927 (2022).

4.         Nowaczewska, M., Wiciński, M. & Kaźmierczak, W. The Ambiguous Role of Caffeine in Migraine Headache: From Trigger to Treatment. Nutrients 12, 2259 (2020).

5.         Alstadhaug, K. B. & Andreou, A. P. Caffeine and Primary (Migraine) Headaches-Friend or Foe? Front Neurol 10, 1275 (2019).

6.         Diener, H., Peil, H. & Aicher, B. The efficacy and tolerability of a fixed combination of acetylsalicylic acid, paracetamol, and caffeine in patients with severe headache: a post-hoc subgroup analysis from a multicentre, randomized, double-blind, single-dose, placebo-controlled parallel group study. Cephalalgia 31, 1466–1476 (2011).

7.         Stewart, W. & Lipton, R. Ibuprofen plus caffeine in the treatment of migraine. in 123–147 (Springer, 1998).

8.         Onderwater, G. L. J., van Oosterhout, W. P. J., Schoonman, G. G., Ferrari, M. D. & Terwindt, G. M. Alcoholic beverages as trigger factor and the effect on alcohol consumption behavior in patients with migraine. Eur J Neurol 26, 588–595 (2019).

9.         Panconesi, A. Alcohol and migraine: trigger factor, consumption, mechanisms. A review. J Headache Pain 9, 19–27 (2008).

10.       Vives‐Mestres, M., Casanova, A., Puig, X., Ginebra, J. & Rosen, N. Alcohol as a trigger of migraine attacks in people with migraine. Results from a large prospective cohort study in English‐speaking countries. Headache 62, 1329–1338 (2022).

11.       Zeevi, D. et al. Personalized Nutrition by Prediction of Glycemic Responses. Cell 163, 1079–1094 (2015).

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