Im Rahmen der neurologischen Migräneprophylaxe ist die Identifizierung von migräneauslösenden Faktoren ein wesentlicher Bestandteil der Therapie1. Die komplexe Analyse dieser Faktoren erfordert jedoch eine beträchtliche Menge an Informationen und Zeit – Ressourcen, die in neurologischen Sprechstunden oft begrenzt sind. Insbesondere in Regionen ohne spezialisierte Zentren und aufgrund der üblichen Intervalle zwischen den Arztbesuchen stehen Patientinnen und Patienten längere Zeiträume ohne direkte Betreuung und Unterstützung da. Für Migräne-Betroffene ist das besonders herausfordernd, da Migräne nicht nur mit einem hohen Leidensdruck einhergeht, sondern auch eine höchst individuelle Erkrankung ist, die unterschiedliche Auslöser und Symptome aufweist.
Sowohl bei der Erhebung von migränespezifischen Daten als auch bei ihrer Auswertung, kann neuste Technologie wie Künstliche Intelligenz (KI) einen wertvollen Beitrag leisten. Moderne digitale Tools in Form von Migräne-Apps setzen genau hier an. Sie schließen eine Versorgungslücke, indem sie immer und überall verfügbar sind, ohne den menschlichen Faktor ersetzen zu wollen. Insbesondere Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) entsprechen höchsten wissenschaftlichen- und technologischen Standards und werden vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) geprüft und zugelassen.
Diese Form der digitalen Migränetherapie kann Patientinnen und Patienten auf mehreren Ebenen unterstützen. Konkret sind dies:
Kopfschmerztagebuch: Eine App ermöglicht es Patientinnen und Patienten, ihre Kopfschmerzen zeit- und ortsunabhängig zu dokumentieren. Es werden Daten zum Auftreten der Attacke erfasst, ebenso wie zu ihrer Dauer und Intensität, um bspw. zwischen einer Migräneattacke und Spannungskopfschmerz zu unterscheiden. Diese Daten dienen dann als Entscheidungsgrundlage für die weitere Therapie, indem sie der behandelnden Ärztin oder dem behandelnden Arzt auf einen Blick alle notwendigen Informationen zur Verfügung stellen.
Wissensvermittlung: Apps eignen sich sehr gut, um Nutzerinnen und Nutzern über ihre Erkrankung aufzuklären. DiGA nehmen dabei eine besondere Rolle ein, denn alle Informationen sind im Rahmen des Zulassungsprozesses wissenschaftlich fundiert und geprüft. KI kann dabei die Voraussetzung schaffen, um Wissenslektionen zu personalisieren und durch Chatbots interaktiv zu gestalten.
Grundzüge von Verhaltenstherapie: Durch eine Art „Gamification“ können Migräne-Apps die Motivation zur Lebensstilmodifikation im Sinne einer nicht-medikamentösen Prophylaxe erhöhen. Dies erfolgt beispielsweise durch Belohnungssysteme, wie die Vergabe von Punkten für das Erreichen von Aktivitätszielen, oder indem das Anwenden von Entspannungstechniken positiv verstärkt wird.
Datenbasierte Therapieoptimierung: Eine Migräne-DiGA mit moderner Software ist in der Lage, aus dem digitalen Kopfschmerztagebuch abgeleitete Reports zu erstellen, die auf einen Blick alle notwendigen Informationen zusammenfassen und ihre Integration in den Behandlungsprozess vereinfachen. Dazu gehören unter anderem Frequenz, Dauer, Art des Kopfschmerzes und die Medikamenteneinnahme. So werden Zusammenhänge noch sicherer und einfacher identifizierbar und die Effekte von medikamentösen und nicht-medikamentösen Therapieanpassungen überprüfbar.
Triggeranalysen: Künstliche Intelligenz ermöglicht nicht nur eine Vielzahl von Analysen im Bereich Klassifizierung einer Attacke sowie deren Phänotyp, sondern auch die datengestützte Identifikation von Migräne-auslösenden Lebensstilfaktoren. Die Vielfalt potenzieller Trigger wie schlechter Schlaf, Stress, Inaktivität oder ungünstige Ernährung macht es umso herausfordernder, eindeutige, individuelle Zusammenhänge zu identifizieren. Diese Schwierigkeit spiegelt sich in der sehr heterogenen Literatur zur Lebensstiltherapie wider und macht deutlich, dass eine intensivere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit nicht-medikamentöser Migräneprophylaxe notwendig ist. Hier kann KI einen wesentlichen Beitrag zu einer personalisierten Medizin bieten.
Digitale Angebote in der Leitlinie
Migräne-Betroffenen stehen verschiedene Hilfsmittel zur Verfügung, die bei der Bewältigung und Therapie ihrer Erkrankung unterstützen können. Smartphone-Applikationen und telemedizinische Angebote haben sich als nützliche Werkzeuge erwiesen, um Diagnostik und Therapie der Migräne zu erleichtern. Durch diese Technologien können Patienten den Verlauf ihrer Migräne und Kopfschmerzen dokumentieren, was eine effektive Verlaufs- und Erfolgskontrolle ermöglicht. Darüber hinaus bieten diese digitalen Lösungen auch Informationstools an, die Wissen über die Erkrankung vermitteln sowie verhaltenstherapeutische Optionen aufzeigen. Insbesondere für Betroffene, die mit zeitlichen oder örtlichen Einschränkungen konfrontiert sind – sei es aufgrund von Pandemiebedingungen, dem Leben in ländlichen Gebieten oder langen Wartezeiten in der Arztpraxis – können internetbasierte Angebote und Apps eine wertvolle Ergänzung oder Alternative zur persönlichen Versorgung darstellen1.
Nicht-medikamentöse Ansätze
Die derzeitigen Leitlinien führen medikamentöse und nicht-medikamentöse Therapieoptionen auf, besonders nicht-medikamentöse Prophylaxen, basierend auf individuellen Lebensstilfaktoren, finden zunehmend Beachtung1. Die Herausforderung liegt in der individuellen Natur dieser Faktoren, die keine generalisierten Empfehlungen zulassen. Denn es gibt nicht DEN einen Auslöser, der für alle Betroffenen gilt. Konsens besteht jedoch in Lebensstilempfehlungen, wie dem Vermeiden von Stress, regelmäßigem Essen, Trinken und Schlafen. Studien in diesem Bereich sind jedoch begrenzt2. Zu erwähnen ist eine erste Pilotstudie, die eine klinisch relevante Reduktion von Migränetagen bei einem individuellen, ernährungsbasierten Therapieansatz zeigen konnte: Basierend auf Gewebezuckerdaten wurden mittels KI-gestützten Algorithmus personalisierte, niedrig-glykämische Ernährungsempfehlungen ermittelt, die im Mittel zu 44 Prozent weniger Migränetagen im Monat sowie einer verringerten Attackenintensität führten3.
Ernährungs-Stress vermeiden durch individuelle Betrachtung
Ernährung und Migräne ist ein mythenbelastetes Thema. Es gibt einzelne Patientinnen oder Patienten, bei denen der Konsum bestimmter Nahrungsmittel regelmäßig Migräneanfälle auslöst. Dies reicht aber nicht aus, um eine allgemein geltende Kausalität herzustellen. Zum Beispiel gibt es Betroffene, die auf Schokolade verzichten, obwohl der Griff zur Schokolade eher ein Resultat des Heißhunger-Symptoms bei Migräne selbst ist4. Diese Suche nach einem „Grund“ und entsprechende übermäßige Auseinandersetzung mit der eigenen Ernährung sowie darauffolgende „Verbote“ können den Genuss bestimmter Lebensmittel in den Hintergrund rücken und im Extremfall sogar zu einer Nahrungsmittelphobie führen, verbunden mit dem Verlust an Lebensqualität.
Der Ansatz, sich auf die Stoffwechselreaktionen, statt auf einzelne Nahrungsmittel zu konzentrieren, zeigt sich in Forschung und Praxis aktuell als eine vielversprechende Alternative. Indem man postprandiale Blutzuckerschwankungen heranzieht, können entsprechend individuelle, niedrig-glykämische Ernährungsempfehlungen abgeleitet werden. Oftmals reicht schon eine andere Kombination oder Reihenfolge von Lebensmitteln, um den Blutzucker stabil zu halten. Dieser datenbasierte und personalisierte Ansatz ermöglicht somit eine differenziertere Betrachtung des Themas Ernährung bei Migräne. Die Ergebnisse einer randomisierten kontrollierten Studie (RCT) zur personalisierten Migräneprophylaxe anhand von niedrig-glykämischen Ernährungsempfehlungen werden in den kommenden Monaten erwartet. Solche hochwertigen Studien sind wichtig, um in den Leitlinien klare Empfehlungen hierzu geben zu können.
Vorteile einer ernährungsbasierten App zur Migräneprophylaxe
Eine Migräne-DiGA, die Blutzuckerreaktionen mit Hilfe eines KI-gestützten Algorithmus auswertet, ermöglicht es Betroffenen, sich auf individueller Ebene und auf einer datengestützten Grundlage mit ihrer Ernährung auseinanderzusetzen. Die Kombination aus Gewebezuckermessung und -interpretation legt die Basis für eine ernährungsbasierte Therapie, die sich positiv auf die Energieversorgung im Gehirn auswirkt und so Migräne vorbeugen könnte. Mit Ansätzen wie diesen nähern wir uns der Vision, therapeutische Interventionen auf individuelle Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten anzupassen und zu personalisieren. Infolgedessen erweist sich eine ernährungsbasierte App zur Migräneprophylaxe als sinnvolle Ergänzung des therapeutischen Portfolios.
Quellen
1. Diener, H. C., Förderreuther, S., Kropp, P., & das Redaktionskomitee. S1-Leitlinie: Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne. DGNeurologie 6, 202–222 (2023).
2. Gaul, C., Zaranek, L. & Goßrau, G. Komplementäre und ergänzende Verfahren in der Kopfschmerztherapie. Schmerz (2023) doi:10.1007/s00482-023-00738-1.
3. Lelleck, V. V. et al. A Digital Therapeutic Allowing a Personalized Low-Glycemic Nutrition for the Prophylaxis of Migraine: Real World Data from Two Prospective Studies. Nutrients 14, 2927 (2022).
4. Nowaczewska, M., Wiciński, M., Kaźmierczak, W. & Kaźmierczak, H. To Eat or Not to Eat: A Review of the Relationship between Chocolate and Migraines. Nutrients 12, 608 (2020).
Autor
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Dr. med. Mareike C. Kück ist promovierte Medizinerin und Fachärztin für Neurologie. Als Physician Scientist unterstützt Sie bei Perfood die wissenschaftlichen Projekte mit Ihrer neurologischen Expertise aus dem Klinikalltag und arbeitet zudem an Discovery-Projekten mit personalisierter niedrig-glykämischer Ernährung.
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